Aphroe – 90
Melting Pot Music, 2012
Gestern ging es eher zufällig in Richtung einer großen Elektronikmarktkette, die mein Bruder und ich jeweils mit einer neuzeitlichen Hommage an alte Tage verließen – er mit der Limited Edition des Stallone-Krachers The Expendables, ich mit 90 von Aphroe. Da ich den abendlichen Sport wegen einer Knieverletzung sausen lassen musste, konnte ich mir bei ein paar Käffchen die Scheibe ausführlich zu Gemüte führen. Ausführlich ist ein gutes Stichwort – das Review ist lang geworden. Ihr seid gewarnt.
Kurz die Fakten für alle, die sie noch nicht kennen: Das Album enthält bei einer Spielzeit von 40 Minuten 10 Tracks, die alle auf Originalstücken aus der Golden Era basieren und Aphroe teilweise schon seit seiner Kindheit begleitet haben. Die Vorgabe: Reimstruktur und Phonetk sollen sich jeweils genau an der Vorlage orientieren.
Cover & Beats
Das Artwork, das übrigens auf’s Konto von Chicken George geht, zeigt Aphroe vor dem gut gefüllten Plattenregal. Unter dem Arm trägt er die Vinyls von Time’s Up und Suckas Need Bodyguards – die ersten Pluspunkte sind gesammelt. Die Beats sind allesamt dicht an den Originalen liegende Reproduktionen von Stylewarz, PH7, Beat Sampraz und Mirko Machine. Hier und da gönnte man sich einige Freiheiten, ansonsten fühlt man sich ganz wie zu Hause.
Die Tracks
01) Los geht es mit dem Track Experten (basierend auf A Tribe Called Quest – Excursions): Aus „Back in the days when I was a teenager / Before I had status and before I had a pager“ mach „Schlecht zu verstehen, wenn man das nie erlebt hat / bevor es Kassettenrekorder mit CDs gab“, und Du hast den passenden Einstieg in das ambitionierte Boom-Bap-Projekt des RAG-Members… macht Lust auf mehr.
02) Die Vorab-Single Zeit ist knapp ft. Mirko Machine (OC – Time’s Up) dürfte hinreichend bekannt sein. Ehrlich gesagt war ich beim ersten Hören vor ein paar Wochen etwas skeptisch gegenüber der Nummer, allerdings kannte ich damals auch noch nicht die Intention, den Track in jeder Hinsicht so wie im Original klingen zu lassen… hätte mir eigentlich auffallen müssen. Seitdem gefällt mir das Teil bei jedem Durchhören mehr, und die Cuts von Mirko sind Hammer.
03) Für Denkzettel hat Aphroe sich den Premier-Mix des Show & AG -Klassikers Next Level herausgepickt. Das Teil lädt zum wasserfallartigen Flowen ein, eine Gelegenheit, die der Mann aus Bochum gerne wahrnimmt. Producer PH7 spendierte dem Beat gleich noch eine Prise mehr Sample, was nicht schadet und dem Ganzen eine entspannte Note verleiht. Die Cuts kommen hier von Aphroe höchstpersönlich.
04) Wer hält das Wort ft. DJ Stylewarz (Nas – The World Is Yours) geistert ja auch schon ’ne Weile durchs Netz. Viel muss man nicht sagen, außer: sehr nice gemacht und vollgepackt mit Tiefsinn – einmal hören reicht wie gewohnt nicht, um alle Aussagen zu erfassen. Ich denke, dass der Rap hier am ehesten an Aphroes Original-Style herankommt. Verschachtelt, versiert vorgetragen und verdammt gut.
05) Don’t Sweat The Technique von Eric B. & Rakim gehört zu meinen All-Time-Faves, trotzdem (oder gerade deshalb) tue ich mich mit der Umsetzung Kompletter MC etwas schwer. Das liegt nicht an Aphroe, sondern daran, dass ich das Original seit den frühen 90ern bis zum Umfallen gehört habe. Da kann sich der Gehörgang schon mal von der ignoranten Seite zeigen und es dem Remake schwermachen. Das Prädikat „gelungen“ gibt’s aufgrund der Treue zum Konzept trotzdem.
06) Rap Pestilenz ist meiner Meinung nach das beste Stück auf 90, obwohl ich auch hier extrem vorbelastet bin, ist das zugrundeliegende Dead Presidents doch mein Favorit von Jay-Z und auch in meiner allgemeinen Top-Liste ganz weit oben. Aber ähnlich wie bei Track 4 harmoniert Aphroe stimmlich und stylemäßig bestens mit dem melancholischen Beat und schafft eine lyrisch makellose Interpretation des 96er-Hits. Zudem besticht die Umsetzung durch äußerste Liebe zum Detail: Wurde im Original die Zeile „I’m out for Presidents to represent me“ aus Nas‘ The World is Yours gesamplet, kommt hier die entsprechende Line aus Wer hält das Wort zum Einsatz – grandios.
07) Als ich auf der vorab veröffentlichten Tracklist die Abkürzung T.R.E.U. las, dachte ich zuerst, Aphroe wagt sich an T.O.N.Y. von Capone & Noreaga, einem Lieblingstrack meiner Wenigkeit. Da sich die entsprechende Hookline auf Deutsch aber wohl ziemlich dämlich angehört hätte, verwendet Aphroe lieber They Reminisce Over You von Pete Rock und CL Smooth. Passt irgendwie auch besser zum Album, wenn man drüber nachdenkt. Der Track ist persönlich gehalten und fängt den Spirit des US-Klassikers perfekt ein.
08) Es folgt Der Beste wird gehen, auf dem laut Backcover ein gewisser Mikro Machine gefeatured wird – entweder handelt es sich um ein subtiles Kopfnicken in Richtung der 90er-Spielzeugreihe von Hasbro, oder schlicht um einen Druckfehler der ersten CD-Auflage, die meiner Pressung in wenigen Jahren einen tausendfachen Wertzuwachs bescheren und mich zu einem reichen Mann machen wird… wer weiß? Fakt ist, dass der Track auf The ? Remains, der B-Seite zu Gang Starrs Suckas Need Bodyguards basiert. Die Frage war ja auch nicht ob, sondern welches Lied von Guru und Premo es auf die Scheibe schafft – eine 90er-Hip-Hop-Hommage ohne Gang Starr wäre kaum denkbar. Aphroe und Mirko machen auch hier dem Original alle Ehre.
09) Suchtkrank liegt Mobb Deeps Durchbruch Shook Ones Pt. II zugrunde, und ich habe das Gefühl, dass der Beat leicht vom Original abweicht – nur eine Nuance, aber irgendwie klingt der erste Ton des Pianos anders. Dass der Beat aber überhaupt in dieser Form von PH7 reproduziert werden konnte, ist eine respektable Leistung für sich, denn das Sample ist mindestens so infamous wie der Mobb selbst und war für mehr als 15 Jahre ein Mysterium, das Sampling-Spezialisten weltweit in den Wahnsinn trieb. Ähnlich wie bei Kompletter MC sitzt das Original einfach zu tief in meinem Hirn, als dass ich Suchtkrank objektiv beurteilen könnte, und so rette ich mich mit dem gleichen Fazit wie bei Track Nr. 5. Textlich werden wieder Wahrheiten am Stück serviert, denn ideenlosen Schwachsinn gibt’s mehr als genug… Wort drauf.
10) Steh auf und Handel (Jungle Brothers – Straight Out The Jungle) thematisiert unter anderem den Welthandel und die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents und passt damit auch inhaltlich zu den kritischen Lyrics des Native-Tongue-Kollektivs. Das im Original verwendete Sample von Grandmaster Flash & The Furious 5 (It’s like a jungle sometimes…) wird von Aphroe natürlich ebenfalls muttersprachlich reinterpretiert. Die lockere Atmosphäre des Originals scheint trotz der ernsten Thematik durch – ein würdiger Abschluss.
Kaufen oder nicht kaufen?
Auf jeden Fall kaufen. Wer die Zeit miterlebt und die Originale gefeiert hat, der darf sich auf sehr unterhaltsame 40 Minuten mit erheblichem Nostalgiefaktor und staunenden „Wie-macht-er-das-bloß?“-Momenten einstellen. Jüngere Hörer können durch 90 den Zugang zu einigen musikalischen Juwelen finden, die sie bisher vielleicht noch nicht kannten. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.
Einige werden argumentieren, dass sowieso nichts an die verwendeten Originale heranreicht und ein Projekt wie 90 daher überflüssig sei. Auch kann die Mic-Präsenz eines Rakim oder OC ebensowenig kopiert werden wie Q-Tips Stimme oder Prodigys Attitüde. Aber darum geht es hier überhaupt nicht: Aphroe wollte keine plumpen Kopien erschaffen, sondern seinen Idolen von damals schlicht und ergreifend Tribut zollen – und das gelingt ihm auf beeindruckende Weise.
Fazit
Das selbstgesteckte Ziel, Reimschemata, Flow und Phonetik englischsprachiger Originale ins Deutsche zu übertragen, meistert Aphroe geradezu mit Leichtigkeit – und das, ohne dabei die Aussage abflachen zu lassen. Ich bin seit Raid-Zeiten ein großer Fan des Ruhrpott-MCs, aber so eine Leistung hätte ich niemandem zugetraut. „Remake“ hin oder her, im Grunde genommen hat Aphroe mit 90 in punkto Konzept und Umsetzung eines der innovativsten Alben der letzten Jahre abgeliefert. Hut ab.
Wir schreiben unsere Reviews anscheinend mit dem gleichen Laptop! Nice 😀
Schön geschrieben, gefällt mir..
http://sirpreiss.wordpress.com/2012/03/30/release-aphroe-90-vinyl-cd-album/
Danke! Und der Discount-Rechner leistet ja auch gute Dienste… außer dass sich bei mir langsam die Tastatur-Beschriftung ablöst von der ganzen Tipperei.
Jau, danke für das tolle Review zu dem großartigen Album von Aphroe, mein absoluter Highlight ist ja Steh auf und Handel zum Jungle Brothers Beat, vor allem wie nahe er am Original rappt, einfach Hammer! Außerdem kam ja Freitag auch noch das neue De La Soul Album, ich hab das ganze Wochenende nur gefeiert 😉
Merci für das sehr coole Review. Ich hör die Platte nun schon seit ihrem Erscheinen sehr regelmäßig, hatte mich bisher aber noch kaum mit den Originalen beschäftigt, an die die neuen Tracks angelehnt sind. Dein Review eröffnet mir daher nun den Zugang zu den Originalen aus den 90ern, die ich zum Teil noch überhaupt nicht kenne.
Werd mir sicherlich einige davon bald mal auf Vinyl besorgen, damit sie meine Plattensammlung bereichern. Und dann werden die Originale erstmal genau verglichen und Aphros Tracks damit verglichen. Ich freu mich schon.
Sehr cooler Blog und fettes Review – Ich sage: Danke und Weiter so !
Danke ebenfalls, viel Spaß beim Originale-Checken!