Hip Hop und Comics haben einiges gemeinsam. Beide hatten es zunächst schwer, als Kunstform anerkannt zu werden, beide wurden allzu oft belächelt und als etwas abgetan, aus dem die Fangemeinde schon irgendwann „herauswachsen“ würde – eine Phase, die sich früher oder später von selbst erledigt. Und beide haben die Zweifler eines Besseren belehrt. Dementsprechend groß ist die Schnittmenge zwischen Hip-Hop-Heads und Comic-Connaisseuren: Ohne Dr. Doom hätte es keinen MF Doom, ohne die X-Men keine Jean Grae gegeben, ganz zu schweigen von der unendlichen Liste Comic-inspirierter Bilder, Textzeilen, Videos und Covers diverser Hip-Hop-Künstler. Da verwundert es eigentlich, dass niemand früher drauf gekommen ist, die Anfänge der Hip-Hop-Kultur in Comicform darzustellen. Den mutigen Schritt, die komplexe Materie in gezeichnete Bilder zu verpacken, unternimmt Ed Piskor mit Hip Hop Family Tree – Die frühen Jahre des Hip Hop (1975 – 1981), auf Deutsch erschienen im Berliner Metrolit Verlag.
Die Gestaltung
Schon die Aufmachung des Comics ist der Hammer. Der Softcover-Einband wirkt sehr hochwertig, auch die Titelillustration der deutschen Ausgabe – nach Kritik des Autors an der ersten Fassung nochmals überarbeitet – macht bis ins Detail einen hervorragenden Eindruck (siehe beispielsweise das Taki183-Tag am Basketballkorb). Wen Comics so wie mich durch die Kindheit begleitet haben, der fühlt sich sofort wie zu Hause. Neben der eigentlichen Story findet man am Ende des Heftes noch Bonusmaterial in Form von Pin-Ups und einer kurzen Zusammenfassung der Hip-Hop-Comic-Connection. Bereits nach dem ersten Durchblättern steht fest: Dieses Werk wird man so schnell nicht wieder hergeben.
Der Inhalt
Ed Piskor schickt den Leser auf eine Zeitreise in das New York der 1970er Jahre, als DJs die Jugend auf Blockparties oder im Park mit ihren Kreationen aus populären Tracks begeisterten. Wie es sich gehört, beginnt die Geschichte in der 150. Sedgwick Avenue in der South Bronx, wo ein gewisser Kool Herc zwei Plattenspieler benutzte, um kurze Breaks zu beliebig langen Stücken zu spinnen. Mit jeder Seite kommen viele neue Charaktere hinzu, der Familienbaum verzweigt sich in unzählige Richtungen – Hip Hop kommt aus den Parks in die Clubs und findet über die Akzeptanz in der Manhattaner Kunstszene den Weg in die weite Welt, während findige Unternehmer im Hintergrund das Geschäftliche regeln. Wir treffen auf Grandmaster Flash, die Cold Crush Brothers, Sugarhill Gang, den schielenden, lispelnden und permanent PCP-rauchenden Russel Simmons, Fab 5 Freddy und Blondie, Mr. Magic, Rick Rubin und unzählige weitere Persönlichkeiten, die Hip Hop auf die eine oder andere Weise prägten und den Grundstein für das legten, was sich in den Folgejahren und -jahrzehnten zur einflussreichsten Jugendkultur des ausklingenden 20. Jahrhunderts entwickeln sollte. Trotz der Masse an Namen und Informationen gelingt dem Macher von Hip Hop Family Tree das Kunststück, die vielschichtige Thematik schön kompakt darzustellen, ohne Wesentliches auszulassen. Zudem ist die Story vollgestopft mit coolen Anekdoten – wer hätte gedacht, dass ein Stromausfall in New York City entscheidend mitverantwortlich dafür war, dass über Nacht zig neue Crews mit Top-Equipment wie Pilze aus dem Boden schossen? Weitere Pluspunkte gibt es auch für die immer wieder eingestreuten Abbildungen von Tracklists oder Vinyl-Labels, die den Eindruck verstärken, dass hier äußerst akribisch recherchiert wurde. Das bestätigt auch der Anhang – Bibliographie, Diskographie und Index füllen gleich drei Seiten.
Die Übersetzung
Ein Punkt, bei dem ich von Anfang Bedenken hatte, ist die deutsche Übersetzung. Zunächst fällt positiv auf, dass nicht jede vorkommende Songtextzeile eingedeutscht wurde. Die Übersetzung des Battles zwischen Busy Bee und Kool Moe Dee zum Ende des Comics bildet eine Ausnahme und ist nicht immer gelungen, aber die Alternative wäre gewesen, gut vier Seiten des Buches komplett in der Originalsprache zu belassen, was bei einer deutschen Ausgabe nicht viel Sinn gemacht hätte. Ansonsten liest sich die übersetzte Version durchaus flüssig und kommt ohne peinliche Ausrutscher aus. Die englische Sprache im Allgemeinen und der Hip-Hop-Slang speziell sind nun einmal nicht verlustfrei ins Deutsche zu übertragen, die Redakteure haben ihren Job hier meines Erachtens sehr gut gemacht. Sicherlich ist das auch Falk Schacht zu verdanken, der dem Verlag beratend zur Seite stand.
Das Fazit
Hip Hop Family Tree ist weder leichte Kost für Zwischendurch noch trockenes Geschichtsbuch, sondern ein anspruchsvolles und höchst unterhaltsames Lesevergnügen, für das man sich unbedingt die nötige Zeit nehmen sollte. Einmal angefangen, wird man dieses geniale Werk nicht mehr aus der Hand legen. Ich wollte gegen ein Uhr nachts mal kurz reinschmökern und PENG – war es vier Uhr morgens. In punkto Aufmerksamkeit verlangt einem das Comic einiges ab: Sehr viele Namen prasseln auf einen ein und sorgen dafür, dass man auch mal ein paar Seiten zurückblättern muss, um sicherzustellen, dass man die Zusammenhänge erkennt (was in meinem Fall eventuell auch an der fortgeschrittenen Uhrzeit lag). Immer wieder habe ich mir überlegt, wie es wohl wäre, wenn das Comic als Zeichentrickfilm im Stile von Klassikern wie Fritz The Cat seinen Weg auf die Leinwand finden würde. Da alles darauf hindeutet, dass Hip Hop Family Tree fortgesetzt wird (die englischsprachige zweite Ausgabe kann man bereits vorbestellen), könnte daraus ja vielleicht eines Tages etwas werden. Bis dahin sollte man seine Hausaufgaben machen und den ersten Teil dieses Comics nicht nur lesen, sondern studieren. Jeder, der sich auch nur ansatzweise für die Hip-Hop-Kultur und ihren Ursprung interessiert, braucht Hip Hop Family Tree in seinem Leben.
Hip Hop Family Tree – Die frühen Jahre des Hip Hop von Ed Piskor ist im Metrolit Verlag erschienen und kostet 22,99 €. Bestellen kann man das Comic im Buchhandel oder direkt beim Verlag. Mehr Infos findet man auch auf boingboing.net, wo die Comicstrips des Autors ursprünglich veröffentlicht wurden.
Ein Gedanke zu “Das ultimative Hip-Hop-Comic: Hip Hop Family Tree (Metrolit Verlag)”