Zum 25. Jubiläum: Warum „Live And Let Die“ von Kool G. Rap & DJ Polo für mich das beste Rap-Album aller Zeiten ist

1992 war ein hartes Jahr für Gangsta Rap. Verantwortlich dafür war absurderweise kein Rap-Song, sondern das allseits bekannte Cop Killer von Ice-Ts Metal-Band Body Count. Major Labels hatten plötzlich Publicity der allerschlechtesten Sorte, während Politiker „gewaltverherrlichende Musik“ im Kongress diskutierten und Eltern um das Seelenheil ihrer Kinder fürchteten… kurz gesagt, die Stimmung war hysterisch. Mittendrin in diesem Chaos: Kool G. Rap und sein Partner DJ Polo, die einfach nur ihr drittes gemeinsames Album raushauen wollen. Live And Let Die ist der Name, und die beiden warten auf das grüne Licht für das Release. Das Problem: Ihr Label ist Cold Chillin‘ Records, dessen Vertrieb damals von Warner Brothers gemanaget wurde. Dem Label von – genau – Ice-T und Body Count. Nicht die besten Voraussetzungen für ein Album, auf dessen Cover zwei Undercover-Cops kurz davor stehen, von G. Rap und Polo gelyncht zu werden. Warner Brothers zog sich zurück, Cold Chillin‘ veröffentlichte das Album am 24. November 1992 auf eigene Faust, und Kool G. Rap und Polo hatten zwar ihr Release, konnten jedoch ohne Major-Backing wesentlich weniger Hörer erreichen, als ursprünglich gedacht.

Mich erreichten sie, so viel ist sicher. Ich besaß damals bereits das zweite Album Wanted: Dead Or Alive (1990) von G. Rap und Polo, Streets Of New York war für mich so etwas wie einer der Gründe, Rap zu hören. Aber als ich 1992 oder ’93 in irgendeinem Laden in Berlin (vermutlich war es Virgin am Ku’Damm) die Nachfolge-CD mit dem übertrieben harten Cover in den Händen hielt, dachte ich zwei Dinge. Erstens, sind das dieselben Jungs wie von Wanted: Dead Or Alive und wenn ja, was ist geschehen? Und zweitens: Wo ist die Kasse? Ohne reinzuhören nahm ich die CD mit, und das war die beste Entscheidung, die ich in Sachen Musik je getroffen habe. Fortan drehte sich die CD in meinem Player zuhause, sie wurde – wie damals üblich – auf Tape überspielt und gehört, gehört, gehört… im Urlaub, im Bus, auf dem Schulweg, immer und überall.

Anfang der 90er galt meine Vorliebe dem Sound der Westküste und dem texanischen Label Rap-A-Lot Records, ich liebte die Beats auf den Scheiben von N.W.A, Ice Cube und Above The Law, ich hörte die Geto Boys, Ganksta NIP und andere Zeitgenossen, die sich vor allem durch textliche Exzesse auszeichneten. Da traf Live And Let Die nicht nur mit seinem finsteren Cover und seinen teils extremen Texten genau ins Schwarze. Denn obwohl Kool G. Rap das New Yorker Burough Queens repräsentiert und er einer der am meisten respektierten MCs der East Coast war und ist, hatte er für die Aufnahmen zu Live And Let Die seine Koffer gepackt und war nach Los Angeles geflogen, um die LP dort von Sir Jinx produzieren zu lassen, seines Zeichens Mitglied des Lench Mob und Hausproduzent von Ice Cube. Damals ein starkes Stück – denselben Move hatte zwei Jahre zuvor Ice Cube mit Amerikkka’s Most Wanted gebracht, das er zu großen Teilen mit dem Bomb Squad in NYC produzierte, ansonsten wagte kaum jemand den 2.800-Meilen-Sprung zwischen den Küsten.

Sir Jinx, DMC und Ice Cube (v.l.n.r.)

Für Abwechslung und eine Prise East-Coast-Flavor sorgte außerdem das New Yorker Producer-Gespann Trackmasters, das drei Tracks auf dem Album beisteuerte – Ill Street Blues, Straight Jacket und Fuck U Man (die allerdings auf der Viny-Version allesamt fehlen). Ganz nebenbei wurden auf der letzten Nummer Two To The Head auch noch Ice Cube sowie mit Scarface und Bushwick Bill 2/3 der Geto Boys gefeaturet. Hätte ich damals einen Track bestellen dürfen, dies wäre das Line-Up gewesen.

Heute, fast genau 25 Jahre nach dem Erscheinen dieses Meisterwerks, kann ich (obwohl ich mich mit Rankings und Toplisten eigentlich immer schwertue) sagen: Live And Let Die ist mein Lieblingsalbum. Nicht eines meiner Lieblingsalben, nicht in meiner Top 3, sondern wirklich mein Favorit, der Real Deal, das für mich endgültig beste Rap-Album aller Zeiten – es gibt keines, das ich besser finde als dieses. Punkt.

Es ist nie ganz einfach, so etwas Subjektives wie die Vorliebe für Musik in nachvollziehbare Worte zu packen. Was mich an dieser LP so faszinierte, würde ich in aller Kürze so ausdrücken: Sie ist wie Kino für die Ohren. Kino der Kategorie Good Fellas, Casino, Heat. Ganz großes Kino. Kool G. Rap erzählt auf jedem Track eine neue Geschichte rund um Gewalt, Sex und organisierte Kriminalität. Der textliche Inhalt auf Live And Let Die ist ebenso episch wie brutal, erzählerisch brillant und blutrünstig. Die beiden Seiten des Vinyls sind mit Horror Side und Terror Side betitelt, was keine Übertreibung ist. Wäre das Album doch auf Warner Brothers erschienen, hätte das gereizte Establishment dem Label umgehend den Krieg erklärt. Ich für meinen Teil kann nur empfehlen, den Longplayer komplett von vorne bis hinten durchzuhören, denn kein einziger Track enttäuscht auch nur eine Sekunde lang. Trotzdem gibt es einige herausragende Anspielstationen, die bei mir den meisten Eindruck hinterlassen haben und auf die ich nun im einzelnen eingehe.

On The Run

Auf das filmartige Intro folgt der Opener On The Run. Der Track handelt von einem Mafia-Geldboten, der schwach wird, als ihn eine halbe Million Dollar aus einem ihm anvertrauten Koffer anlächeln. Er entscheidet sich für das Geld und die Flucht, nachdem er Kind und Frau eingesammelt hat (Hurry up and get your shit! I’m a dead man bitch, understand, we gotta split!). Dass die Sache nicht unblutig endet, sollte klar sein, vielmehr gipfelt die Jagd in einem ausufernden Feuergefecht. Schon dieser Track macht klar, wieso Kool G. Rap als der Pate des Mafioso-Rap gesehen wird. (Im Video ist ein Remix des Tracks zu hören, die Album-Version gibt es hier).

Live And Let Die

Das Intro des Tracks zeigt erneut, warum Warner das Release zu heiß war, denn es geht es zwei verdeckten Ermittlern an den Kragen, die während eines geplatzten Drogendeals ihr Leben lassen (Ask him what kind of cigarette he smokes…). Der folgende Titeltrack zeigt die einzigartige Chemie zwischen dem MC von der Ost- und dem Producer von der Westküste. Der Beat von Jinx ist hardcore, trotzdem schwingt dieser unverwechselbare West-Coast-Vibe mit, während Kool G. Rap Geschichten aus der Perspektive eines Drogendealers erzählt, bei denen man unwillkürlich die Jacke zumacht und den Kragen hochstellt. Hier trifft das Beste aus beiden Welten bzw. beider Küsten aufeinander.

Crime Pays

Auf einem funky Jinx-Beat erklärt uns G. Rap schlüssig, warum Verbrechen sich eigentlich doch lohnt… nur für wen, das ist die große Frage. Der Track entpuppt sich schnell als systemkritischer Kommentar zum aktuellen Stand der Dinge anno ’92 (und bis heute, wenn wir ehrlich sind), trotzdem wird das Wort motherfucker in jeder dritten Zeile verwendet, was ich sehr begrüße. Um Inhalt und Aussage wie hier auf die Reihe zu kriegen, brauchen andere Rapper Tracks in Überlänge, das Kool Genius of Rap braucht keine zweieinhalb Minuten.

Home Sweet Home

Home Sweet Home holt uns sofort zurück auf den kalten New Yorker Boden der Tatsachen, untermalt von einem Beat, der trotz seines Tempos die ganze Tristesse des Großstadtdschungels widerzuspiegeln scheint. Der Track ist die Fortsetzung von Streets Of New York – klang G. Rap dort noch wie ein Beobachter, der eine Bestandsaufnahme aus seiner Nachbarschaft liefert, klingt der Erzähler auf Home Sweet Home, als hätte er in der Zwischenzeit sämtliche Hoffnung verloren. Abgestumpft von der alltäglichen Gewalt präsentiert er ein dumpfes Stakkato der Scheußlichkeiten, die sich um ihn herum abspielen. In Sachen Atmosphäre ist dieser Track ein sträflich unterschätztes Meisterwerk.

Train Robbery

Der Zugraub war bereits Thema diverser Filmklassiker, hier wird das Motiv von Kool G. Rap in urbane Gefilde verlegt und in aller Konsequenz in einen der besten Storytelling-Tracks aller Zeiten verwandelt. Wäre der Text das Drehbuch zu einem Film, so würde das Studio nach dem ersten Lesen die große Zensurschere auspacken, denn die Lyrics sind – auch nach heutigen Maßstäben – übertrieben nihilistisch und brutal. Und natürlich gewinnen am Ende die bösen Jungs, nachdem sie eine zweistellige Anzahl Polizisten umgebracht haben. But hey, what I can say, life is a bitch so fuck it!

Operation CB

Es ist kaum zu glauben, aber Operation CB (CB steht für Cock Blocking) beschert uns tatsächlich eine Art Comic Relief inmitten der tödlichen Welt aus Kriminalität und Gewalt, die auf dem Album gezeichnet wird. Die Story ist schnell erklärt: Kool G. Rap chillt bei seiner Süßen und möchte gerne zur Sache kommen, Sir Jinx ist jedoch auch da und erweist sich als Profi darin, jegliche Annäherungsversuche zu unterbinden. In der zweiten Strophe gibt es quasi dasselbe Szenario, nur ist Ziel von G. Raps Begierde hier eine Babysitterin und der Cockblocker ist der kleine Racker, auf den sie aufpassen muss. Der Track ist 1A umgesetzt und zum kaputtlachen, ich beneide jeden, der ihn zum ersten Mal hören darf.

Straight Jacket

Das Lachen bleibt einem dann auch direkt im Halse stecken, denn auf Operation CB folgt das von den Trackmasters produzierte Straight Jacket, in dem G. Rap als schizophrener Irrer einem Psychiater beichtet, was in seinem Kopf los ist und darum bettelt, in eine Zwangsjacke gesteckt zu werden. Lange Zeit war dieser hier mein Lieblingstrack des Albums, was vermutlich ein Stück weit an meinem Faible für Horrorfilme und Psychothriller lag, das ich damals hatte. Der irgendwie schräge Beat in Verbindung mit Kool G. Raps durchgeknallten Geschichten aus erster Hand bleibt bis heute einer meiner Favoriten aus der Kategorie „Horrorcore-Tracks aus der Zeit, bevor Horrorcore erfunden wurde“.

Ill Street Blues

Dann kommt er endlich, der wohl bekannteste Track des Albums: Ill Street Blues. Müsste ich wählen, dann wäre das hier für mich das beste Lied aller Zeiten auf dem besten Album aller Zeiten. Der Beat von den Trackmasters mit dem Joe-Williams-Sample ist ein Geniestreich und passt zu Kool G. Rap und seiner bis ins Detail perfekt erzählten Mafioso-Story wie Nicky Santoro nach Las Vegas. Es werden Leute bedroht, abgestochen, mit Kugeln vollgepumpt und aus Fenstern geworfen – Fans von Scorsese, Pesci und Co. dürften ihre helle Freude haben. Das hier ist der ultimative Mob-Track, falls es je einen gab – egal, ob man ihn 1992, 2017 oder 3197 hört.

Go For Your Guns

Dieses Waffen-Manifest hat mit Zeilen wie while you lift weights, I’m liftin light ass nickel plates das Zeug zur offiziellen Hymne der NRA und ist ein weiteres gutes Beispiel für die alles umfassende Anti-Einstellung, die die Lyrics von G. Rap auszeichnen. Wer sonst kennt einen Track, auf dem mehr als drei Minuten lang empfohlen wird, jede gewalttätige Auseinandersetzung kurzerhand mit der Schusswaffe zu beenden? Ehrenhafte Faustkämpfe waren gesten, denn my Glock can kill twenty motherfuckers with boxing skills

Edge Of Sanity

Die Nummer 14 teilt sich den Storytelling-Topspot mit Train Robbery, vielleicht ist er sogar noch einen Tacken stärker – weniger Action, weniger tote Cops, dafür mehr Tragik, Psychologie und menschliche Abgründe. Die Geschichte handelt von einem Familienvater, der einen Raubüberfall begeht, um Geld nach Hause zu bringen – nur um im Knast zu erfahren, dass ihn die Mutter seines Kindes betrügt. Selten habe ich in den letzten 25 Jahren einen Track von solcher Intensität gehört, der Beat mit seinen kleinen Variationen ist das perfekte Vehikel für den niederschmetternden Text. 12 von 10 Punkten.

Fuck U Man

Die Quasi-Fortsetzung des expliziten Klassikers Talk Like Sex ist neben Operation CB der zweite Track, der auch mal zu einem herzhaften Lachen verleitet, vorausgesetzt, man hat nichts gegen krasseste Übertreibungen der pornographischen Art einzuwenden (You couldn’t deep throat G. Rap if you was a motherfuckin‘ giraffe). Gekonnt wird immer wieder das Sample des Vorgänger-Tracks eingebaut. „Sauber“ würde ich sagen, wenn der Track nicht so abgrundtief dreckig und verdorben wäre.

Two To The Head

Der letzte Track hätte den Kaufpreis der CD selbst dann gerechtfertigt, wenn der Rest Müll gewesen wären. Außer Kool G. Rap sind hier drei weitere meiner Lieblingsrapper aus den 90er Jahren am Start: Scarface, Bushwick Bill und Ice Cube. Scarfaces psychopathische Lache am Anfang gibt einen ziemlich guten Eindruck davon, was uns erwartet und sollte zartbesaiteten Hörern als letzte Warnung dienen, schleunigst das Weite zu suchen. Es werden Schädel herausgerissen, Leichen geschändet, Augen ausgestochen und Gehirne rausgepustet – nichts Besonderes, wenn Team Texas mitspielt. Two To The Head ist – um auch hier noch ein Superlativ unterzubringen – der beste Feature-Track, den ich kenne, und ich kenne einige. Aber die hier präsentierte Kombination von Rappern aus Ost, Süd und West schießt nicht nur den Vogel ab, sondern fährt danach zu ihm nach Hause und bringt seine komplette Familie um, word to 5th Ward.

Nie mehr habe ich ein Album gehört, das lyrisch dermaßen kompromisslos ist, sich dabei technisch auf einem so hohen Niveau bewegt und in sich so stimmig ist, wie dieses hier. Vom Cover bis zum letzten Track, Live And Let Die ist Gangsta Rap vom Feinsten, Storytelling in Vollendung und das Album, mit dem sich Kool G. Rap endgültig als Godfather des Genres Mafioso-Rap etablierte. Sir Jinx liefert an der Beat-Front atemberaubend gute Arbeit ab, ebenso die Trackmasters, die drei Tracks beisteuern und drei Volltreffer landen. Live And Let Die ist ein Meisterwerk, das sich wie ein Film auf die innere Leinwand des Hörers projiziert und ihn in unvergleichlicher Weise teilhaben lässt an den Geschichten aus dem Rinnstein von New York City, an Zugüberfällen, Mafia-Morden und dem alltäglichen urbanen Wahnsinn. Kool G. Rap gilt als der großartigste MC jemals, was ich sofort unterschreibe, aber auch als der am meisten unterschätzte. Dasselbe gilt für dieses Album, das nicht annähernd die Props kassiert, die ihm zustehen. Meine Meinung jedenfalls steht unumstößlich fest: Kool G. Rap ist der beste MC aller Zeiten. Und Live And Let Die ist sein bestes Album. Peace.

Weiterführende Links:
Interview mit Kool G. Rap zur Entstehung von Live And Let Die, Mass Appeal, 2017
Interview mit Kool G. Rap und dem Boss von Cold Chillin, The Source, 1993

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